Antje Göhlers zweiter Roman erschienen

Antje Göhler (geb. Riedel) ist eine der besten Schachspielerinnen Berlins. Höhepunkte ihrer Schachlaufbahn waren 1988 der DDR-Meistertitel bei den Frauen und die Verleihung des Titels Internationale Meisterin. Nach dem 1992 in Leipzig abgeschlossenen Studium der Germanistik lebte sie mit ihrer Familie in Berlin, Bonn, Warschau, Rom und Taschkent. Derzeit ist Antje in Kostarika. Die promovierte Literaturwissenschaftlerin veröffentlichte jetzt ihren zweiten Roman. Dagobert Kohlmeyer hat ihn gelesen.

„Salziger Wein“ - eine Liebeserklärung an die Literatur

Von Dagobert Kohlmeyer

Mit „Salziger Wein“ legt Antje Göhler ihren zweiten Roman vor, der wie bei ihrem literarischen Debüt starke autobiografische Züge trägt. Das Cover mit dem langen Häuserblock weist auf die Kindheit ihrer Heldin Bettina hin, die in den 1970er und 1980er Jahren in einem Ost-Berliner Plattenbau aufwächst. Mag die Umgebung auch trist wirken, zu Hause ist das Mädchen von einer Bücher- und Fantasiewelt umgeben, deren Grenzen mitunter verschwimmen. Träumereien tragen die Romanfigur überallhin, gedanklich und in die reale Welt hinaus.

Berlin bleibt nicht der einzige Schauplatz des Geschehens. Die Autorin schildert Kindheitserlebnisse ihrer Protagonistin in deren Sehnsuchtsort Dresden und einprägsame Situationen aus Bettinas Studienzeit in Leipzig. Sie schlägt auch den Bogen bis zu längeren Aufenthalten der Heldin in Warschau oder im fernen Taschkent. Mit dem Dresdner Großvater teilt Betty die Liebe zum Lesen und zum Schachspiel. Seine alten Figuren begleiten sie auch ins Ausland. „Liebevoll strich Bettina einem Springer über sein abgebrochenes Ohr.“ In Taschkent, wo das geschieht, gibt es einen Deutschen Lesesaal, und ein Jessenin-Museum, wo Bettina Nahrung für ihre Leidenschaft, die Dichtung, sucht.  

Das anspruchsvolle Buch streift durch die halbe Literaturgeschichte. Immer wieder zitiert Antje Göhler aus Theodor Storms Novelle „Immensee“, an die ihre Romanhandlung angelehnt ist. Bettina befindet sich in einer Dreiecksbeziehung: Ein heranwachsendes Mädchen und seine Freunde Henry und Lutz. Es geht um zarte Erfahrungen mit der ersten Liebe, um Orientierungen im Leben und um notwendige Entscheidungen. Bettina ist ein stilles Mädchen, das nicht gern im Mittelpunkt steht. Lieber beobachtet sie das Geschehen um sich herum und flüchtet oft in ihre literarische Welt. Die kleine Betty liest von vielen Abenteuern und spinnt sie im Kopf weiter. In späteren Jahren ist ihre Distanz als Betrachterin groß genug, um auch die Realität besser zu erkennen und zu sich selbst zu finden. Bei ihrer Suche ist die Literatur immer essentiell. („Lesen war wie Atmen. Bücher waren Lebensmittel.“)

Die Zitate aus „Immensee“ und anderen Büchern werden durch Kursivschrift kenntlich gemacht. Aus vielen bekannten Werken webt die Autorin Gedanken in ihren Text ein. Leser mit ostdeutscher Biografie können sich eher erinnern, wenn Sätze aus Liselotte Welskopf-Henrichs „Die Söhne der großen Bärin“ anklingen oder wenn Gaidars „Timur und sein Trupp“ oder auch Meras‘ Roman „Remis für Sekunden“ erwähnt werden. Im letzteren Buch geht es um eine Schachpartie in einem jüdischen Ghetto, die zum Spiel auf Leben und Tod wird. Der edle Denksport spielt in den Büchern der Autorin Antje Göhler, die selbst eine ausgezeichnete Schachspielerin ist, immer eine Rolle.  

Antje Göhler
Dagobert Kohlmeyer
Antje Göhler

Ungewöhnlich für einen Roman ist der Anhang, in dem alle Zitate - und seien es nur einzelne Worte - akribisch aufgelistet und zugeordnet werden. Daran erkennt man die promovierte Literaturwissenschaftlerin Göhler. Sie tut es sogar mit inzwischen geflügelten Worten, z.B. ein weites Feld (Fontane, „Effi Briest“). Wie schon in ihrem Kurzroman „Balcke oder der hypermoderne Prometheus“ ist das Thema Bildung für die Autorin mehr als wichtig. Wir erfahren, dass Bettinas Lieblingsfach in den letzten beiden Schuljahren ausgerechnet Latein war. Einfach deshalb, weil der schrullige Lehrer dabei auch antike Geschichte, Literatur und Philosophie vermittelte, erklärt Antje Göhler. Feinsinnig nennt sie den Lateinunterricht „eine Insel im allgemeinen Schulfahrwasser“, weil dort Bildungsgut vermittelt wurde.

„Salziger Wein“ ist ein moderner Bildungsroman, der die Entwicklung einer reflektierten Heldin beschreibt, mit all ihren Wünschen, Träumen, Freuden und Selbstzweifeln. Melancholie ist Bettina nicht fremd. Fallen ihr Tränen der Trauer ins Glas, schmeckt sie den salzigen Wein. Doch sie weiß: Auch in den schwierigsten Zeiten des Lebens kann die Literatur eine Oase der Ruhe sein, wo wir Halt und zu uns selbst finden.

P.S. In der Welt der schönen Worte gibt es einen harten Wettbewerb. Nur wenige Autoren schaffen es mit ihren Büchern auf die Bestsellerlisten, meist die arrivierten.  Das scheint nicht Antje Göhlers primäres Anliegen zu sein. Wie der Romanheldin Bettina ist ihr mehr daran gelegen, uns die Liebe ihres Lebens - zur Literatur und zum Schreiben - zu offenbaren.

heptagon Verlag, 180 Seiten, 14,90 Euro

2014 hatte Antje Göhler ihren Debütroman Balcke oder Der hypermoderne Prometheus herausgebracht. Es ist eine lesenswerte Lektüre, in der es um das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft geht. Neben dem Eintauchen ins Berliner Literaturgeschehen vor einem Jahrhundert kommt auch das Schach nicht zu kurz. Sehr originell war die Idee der Autorin, die einzelnen Kapitel nach den Feldern der langen Diagonale a1-h8 zu bezeichnen.

Bearbeiter: Frank Hoppe | | Archiv: Rezensionen | ID: 19518

Kategorie: Rezensionen

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