England und Deutschland treffen beim ersten Prison Chess Festival aufeinander
Von Frank van Hasselt (Berlin) und Peter Sullivan (London)
Übersetzt aus dem Englischen von Jarek Fuczek und Carolin Raabe
Titelfoto © JVA Tegel
Eröffnungszüge
Kurz vor neun / zehn Uhr, an einem sonnigen / verschneiten Tag Anfang Dezember 2023, versammelten sich 16 Spieler für den Showdown England gegen Deutschland. Sie befanden sich hierfür an zwei verschiedenen Orten: Die Hälfte der Männer war in einer Bibliothek im HMP Wandsworth in London, die andere Hälfte in einem Trainingsraum in der JVA Tegel in Berlin. Aber in den nächsten Stunden würde das Schachspiel die Grenzen zwischen ihnen verwischen.
Die Männer hatten sich hart auf ihr Aufeinandertreffen vorbereitet. Sie hatten Trainingspartien gespielt, Schachbücher gelesen und die Partien ihrer Gegner bei der Intercontinental Online Chess Championship for Prisoners studiert (mehr über dieses großartige Turnier später). Sie hatten auch über andere Aspekte des Spieles nachgedacht – Beispielsweise darüber, wie wichtig es ist, gut ausgeruht zu sein und unter Druck ruhig zu bleiben. Eine Sache, die sie nicht machen konnten, war die Arbeit mit Engines oder Datenbanken, da elektronische Geräte und Internetzugang im Gefängnis streng reglementiert sind. Aus der Sicht eines Schachspielers fühlt sich das Betreten eines Gefängnisses wie eine Reise zurück in die Schachwelt des 20. Jahrhunderts an.
Die Erwartungen an die Veranstaltung waren unter den Beteiligten gemischt. In Berlin war die optimistischste Person ein Gefängnisbeamter, der darauf hinwies, dass „wir England immer im Fußball schlagen, also werden wir sie auch im Schach schlagen“ (in der Tat war das letzte Mal, dass Deutschland England in einem Fußballwettbewerb geschlagen hat, im Jahr 2010). Die Spieler waren deutlich weniger zuversichtlich. Einer von ihnen sagte voraus, dass „wir zerschlagen werden“. In London zeigten sich die Männer mit einer Mischung aus Zuversicht und Nervosität. Es herrschte die allgemeine Überzeugung, dass England gewinnen würde, vor allem wegen seiner starken Leistungen in einstigen Schachwettbewerben. Jeder Einzelne hatte jedoch Angst, die Mannschaft zu enttäuschen.
Die englischen und deutschen Spieler setzten sich auf ihre Plätze, die chess.com-Uhren wurden gestartet und somit war das erste Prison Chess Festival offiziell eröffnet.
To BA or not to BA
Die erste Runde erwies sich für die deutsche Mannschaft als genauso schwierig wie die düstersten Vorhersagen. Die Deutschen hatten ihre Chancen, aber die Engländer waren taktisch schärfer. An Brett 1 wurde zum Beispiel die folgende Stellung erreicht:
England – Deutschland
Runde 1, Brett 1
Weiß hat gerade 23.Kh3 gespielt und Schwarz hätte nun mit 23...Txd1 24.Dxd1 (24.Txd1 funktioniert nicht wegen 24...h6) 24...h6 25.Sf3 De6+ 26.Kg2 Dxa2 eine sehr angenehme Stellung erreichen können. Stattdessen folgte 23...Df6? 24.Txd8+ und Weiß gewann daraufhin.
Nach etwa 20 Minuten Spielzeit hatte England an allen vier Brettern gewonnen und in Berlin machte sich die Befürchtung breit, in allen vier Runden chancenlos zu verlieren. Zwei Spieler, die Süßigkeiten mitgebracht hatten, begannen sofort damit, diese an ihre Mannschaftskameraden zu verteilen, um diejenigen zu trösten, die gerade verloren hatten und diejenigen zu stärken, die ihren Platz einnehmen würden. In London herrschte, wenig überraschend, Jubelstimmung. Selbst diejenigen, die am optimistischsten gewesen waren, hatten nicht mit einem so überzeugenden Ergebnis gerechnet.
Aber offensichtlich hatten die Süßigkeiten in Berlin den gewünschten Effekt, denn in der zweiten Runde gab es eine dramatische Wende (nur um eins klarzustellen, die Süßigkeiten waren wirklich nur Süßigkeiten). Der erste Hinweis darauf kam schon nach wenigen Zügen, als an Brett 3 die folgende Stellung erreicht wurde:
Deutschland – England
Runde 2, Brett 3
Irgendetwas scheint mit Schwarz' Pirc schief gelaufen zu sein, denn Weiß hätte jetzt 6.e5 Sh5 7.Lxf7+ Kxf7 8.Sg5+ Kg8 9.Se6 De8 10.Sxc7 spielen können, was extrem stark aussieht. Weiß verpasste die Kombination und entschied sich für das vorsichtigere 6.0-0, aber es war ein klares Zeichen dafür, dass das Spiel für Deutschland besser laufen würden.
Und tatsächlich, 20 Minuten später stand es wieder 4:0, aber diesmal zu Gunsten der Deutschen. Zu diesem Zeitpunkt dämmerte es beiden Seiten, dass sie es nicht mit dem erwarteten Gegner zu tun hatten. England hatte in der ersten Runde seine A-Mannschaft und in der zweiten Runde seine B-Mannschaft ('AB') aufgestellt und erwartet, dass Deutschland dasselbe tun würde. Deutschland hatte jedoch das Gegenteil getan ('BA') und erwartet, dass England dies auch tun würde. Es gibt nichts Besseres als ein kleines Missverständnis, um einer Veranstaltung mehr Dramatik zu verleihen – Weitere Pannen wurden aber vermieden, indem beide Teams bestätigten, dass sie in den letzten beiden Runden definitiv mit einer ‘BA‘-Aufstellung antreten würden.
Der Spielstand war nun 4:4 und die Spannung stieg. Die Zuschauer in Berlin beschränkten sich auf einen Schneemann, der vom Gefängnishof aus zuschaute, und einer Mitarbeiterin der Abteilung Soziale Arbeit der JVA Tegel, die die Veranstaltung überwachte. Im Gegensatz dazu gab es in London einen großen Bildschirm, auf dem pro Runde eines der Spiele gezeigt wurde, und um den sich etwa 16 Zuschauer versammelt hatten.
Über das Prison Chess Festival
Schach in Gefängnissen hat in den letzten Jahren an großer Bedeutung gewonnen. Es gab eine Reihe von Initiativen zur Einführung von Schach in Gefängnissen auf der ganzen Welt – von Brasilien bis Armenien, von den USA bis Norwegen und von Simbabwe bis zur Mongolei, um nur einige wenige zu nennen. Diesen Initiativen liegt die Annahme zugrunde, dass Schach nicht nur eine Möglichkeit ist, sich die Zeit zu vertreiben („eine wunderbare Waffe gegen die erdrückende Monotonie des Raumes und der Zeit“, wie es in Stefan Zweigs „Schachnovelle“ heißt). Darüber hinaus kann das Spiel den Insassen wertvolle Fähigkeiten vermitteln und sie auf das Leben draußen vorbereiten, indem es zum Beispiel kritisches Denken, Konzentration, Geduld, Belastbarkeit und das eigene Selbstwertgefühl verbessert.
Lange Zeit existierten diese verschiedenen Bemühungen weitgehend parallel, ohne dass es viel Kontakt zwischen den Initiativen gab. Das änderte sich mit dem Start des Programms Chess For Freedom durch die FIDE und das Cook County Sheriff's Office im Jahr 2021. Seitdem hat Chess For Freedom durch Konferenzen, Workshops, Networking und – vielleicht am wichtigsten – durch die Intercontinental Online Chess Championship for Prisoners entscheidend dazu beigetragen, eine weltweite Schachbewegung im Gefängnis zu fördern. Unter der Leitung von Mikhail Korenman, dem Leiter des Schachprogramms im Cook County Jail in Chicago, ist die Meisterschaft von Jahr zu Jahr gewachsen: 2021 nahmen 43 Teams aus 31 Ländern teil, 2022 85 Teams aus 46 Ländern und 2023 ganze 118 Teams aus 50 Ländern.
Die Teams von HMP Wandsworth und der JVA Tegel haben bisher an allen drei Meisterschaften teilgenommen und ihr Land vertreten. Die Trainer (Peter Sullivan in Wandsworth, Frank van Hasselt und Jarek Fuczek in Tegel) haben aus erster Hand erfahren, wie bedeutend die Turniere für die Insassen waren. Diese haben das Schachjahr strukturiert und den Spielern etwas gegeben, auf das sie sich freuen und auf das sie hinarbeiten können. Sie haben auch den Sinn für Teamgeist und gegenseitige Unterstützung gefördert. Darüber hinaus war die Vertretung des eigenen Landes ein positives Erlebnis für die Inhaftierten, auf das sie stolz sein konnten. Die Herausforderung für die Trainer bestand darin, diese wertvollen Aspekte zwischen den Meisterschaften aufrechtzuerhalten – So entstand die Idee des Prison Chess Festivals.
Das Prison Chess Festival ist nicht sonderlich originell und versucht auch nicht, es zu sein. Es kopiert das Format des Intercontinental Online Chess Championship for Prisoners: Teams von vier Spielern treten auf chess.com mit einer Zeitkontrolle von 10 Minuten + 5 Sekunden Inkrement pro Zug gegeneinander an. Der Hauptunterschied besteht darin, dass bei unserem Festival mehr Wert auf Integration und Spaß als auf Leistung und Erfolg gelegt wird. Das Festival ist im Vergleich zur Meisterschaft wie ein Fußball-Freundschaftsspiel zur Weltmeisterschaft: Die Regeln sind dieselben, der Ball ist derselbe, aber das Ereignis ist nicht so ernst. Aus diesem Grund haben die Teilnehmer der ersten Ausgabe nicht nur ihre A-Mannschaften, sondern auch ihre B-Mannschaften aufgestellt...
Das Festival erreicht seinen Höhepunkt
... die nun gegeneinander antraten.
Nach den Niederlagen in der ersten Hälfte des Turniers wollten beide Teams in Runde 3 unbedingt aufholen. Wie schon in der ersten Runde legte England mit Siegen an den Brettern 1 und 4 einen beeindruckenden Start hin. Der englische Ansturm wurde jedoch gestoppt, als es dem deutschen Spieler an Brett 2 gelang, seinen Gegner schachmatt zu setzen, obwohl er zwei Figuren weniger hatte. Alle Augen waren nun auf Brett 3 gerichtet, wo das folgende Endspiel erreicht wurde:
Deutschland – England
Runde 3, Brett 3
Der englische Spieler an Brett 3 war erst 20 Jahre alt und somit das jüngste Mitglied der Mannschaft. Er war während der Vorbereitungen sehr nervös gewesen, weil er Angst hatte, seine Mannschaftskameraden im Stich zu lassen, falls er beide Partien verlieren sollte. In dieser Position steht er auf Gewinn, aber wie bringt er die Partie am einfachsten zu Ende? Glücklicherweise erinnerte er sich an eine der wichtigsten Lektionen aus den wöchentlichen Trainingseinheiten – zu vereinfachen, wenn man die bessere Stellung hat – und spielte 36...Tc8! Der Zug selbst ist nicht spektakulär, aber der Trainer von Wandsworth war erfreut zu sehen, dass der Spieler sich an das Training erinnerte und dem Druck standhielt. Die Partie wurde auf der großen Leinwand in Wandsworth gezeigt, und 36...Tc8 erhielt den größten Beifall des Tages.
Kurz darauf holte der englische Spieler den Punkt und verhalf England, die Runde mit 3-1 zu gewinnen und insgesamt mit 7-5 in Führung zu gehen. Es war ein komfortabler Vorsprung, aber Deutschland hatte noch Hoffnungen, ein Comeback zu schaffen. Alles würde sich in der Begegnung zwischen den A-Teams der Länder in der letzten Runde entscheiden – wie bei der Monomachie in der Antike, wo der Ausgang einer Schlacht im Einzelkampf zwischen den Champions beider Seiten entschieden wurde.
Runde 4 begann mit einem frühen Sieg für England an Brett 4, aber Deutschland schlug an Brett 2 zurück. Außerdem dominierte der deutsche Spieler an Brett 3 klar und gewann erst eine Qualität und dann einen ganzen Turm. Die dramatischste Auseinandersetzung war das Duell an Brett 1, in dem der Vorteil von einem Spieler zum anderen wechselte, bis nach 59 Zügen ein ausgeglichenes Endspiel erreicht wurde:
England – Deutschland
Runde 4, Brett 1
In Berlin atmeten die Trainer kollektiv auf. Nach 59...Kg8 ist die Stellung remis und die Spieler können sich virtuell die Hände schütteln. Das bedeutete, dass Deutschland A einen knappen 2,5 – 1,5 Sieg über England A erringen würde. Das würde zwar nicht für den Gesamtsieg des Festivals reichen, aber Deutschland würde nur um Haaresbreite verlieren.
Aber all diese angenehmen Gedanken lösten sich in Luft auf, als Schwarz 59...Kf8? spielte. Die Trainer in Tegel ärgerten sich, dass sie nicht mehr Zeit in Bauernendspiele investiert hatten. Es folgte 60.Kxf6 Kg8 und jetzt spielte Weiß 61.Kg5? Nun ärgerte sich der Trainer von Wandsworth ebenso. Die Partie ging weiter mit 61...Kg7 62.Kh5 Kh8? 63.Kh6 Kg8 – Nun spielte Weiß das entscheidende 64.g7 und gewann.
Post-Mortem – Analyse
So endete die letzte Runde mit einem 2:2-Unentschieden, was bedeutete, dass England das erste Prison Chess Festival mit einem Gesamtergebnis von 9:7 gewann. Das englische Team bestätigte seinen Status als Favorit, aber das Ergebnis war nicht so deutlich, wie viele erwartet hatten. Deutschland war nah dran und wurde keineswegs „zerschlagen“. Obwohl es in Berlin einige Stimmen gab, die davon sprachen, dass 2023 das neue 1966 sei, war es ein Ergebnis, mit dem letztlich alle leben konnten.
Wichtiger für die Trainer war die allgemeine positive Stimmung. Die Spieler hatten vor dem Festival hart trainiert, waren während der Spiele voll konzentriert und zeigten einen beeindruckenden Teamgeist, indem sie die Erfolge ihrer Mannschaftskameraden feierten und sie bei Niederlagen unterstützten und aufbauten. In Berlin dachte der Süßigkeiten verteilende Spieler darüber nach, was zukünftig erreicht werden könnte, wenn das Team auf Kuchen umsteigen würde.
Diese positive Einstellung zeigte sich auch bei den beiden Gefängniseinrichtungen, die uns großartig unterstützt haben. Die Autoren dieses Artikels möchten sich bei allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der JVA Tegel und des HMP Wandsworth bedanken, ohne die das Festival nicht möglich gewesen wäre: von der Mitarbeiterin der Abteilung Soziale Arbeit der JVA Tegel, die das Turnier betreute, bis hin zu dem Beamten in Wandsworth, der es einem Spieler aus einem abgelegenen Flügel ermöglichte, rechtzeitig anzutreten (Der Spieler bedankte sich, indem er seine beiden Partien gewann). Wir möchten uns auch bei Chess in Schools and Communities bedanken, die eine solch großartige Arbeit bei der Förderung des Schachs in britischen Gefängnissen leisten sowie beim Berliner Schachverband für dessen Unterstützung der Tegeler Schachgruppe.
Wir müssen gestehen, dass wir vor der Veranstaltung kein klares Ziel hatten. Wir wollten einfach etwas ausprobieren und sehen, wie es läuft. Und wir dachten, dass es gut wäre, der Veranstaltung einen Namen zu geben – das Prison Chess Festival – für den Fall, dass wir es wiederholen wollen. Jetzt, da wir das erste Turnier hinter uns haben, würden wir gerne weitere Ausgaben organisieren. Wir würden uns freuen, wenn andere Gefängnisse in Deutschland, Großbritannien oder weiteren Ländern mitmachen würden. Insbesondere hoffen wir, dass Mirko Trasciatti, der eine wunderbare Arbeit in italienischen Gefängnissen leistet und uns bei der Entwicklung des Prison Chess Festivals geholfen hat, sich das nächste Mal anschließen kann.
Unmittelbar nach der letzten Runde drehte sich einer der Spieler von seinem Bildschirm zu seinem Trainer um und fragte: „Können wir das noch einmal machen?“ Wir hoffen, dass wir diese Frage mit dem berühmten Satz der schachbesessenen Hauptfigur aus „Casablanca“, gespielt von Humphrey Bogart, beantworten können: „Vielleicht nicht heute, vielleicht nicht morgen, aber bald.“