Geller, Alpha Zero und das schmutzige Gewinnen

Ein Blick auf Neuerscheinungen: "The Nemesis" über Geller, "Winning Ugly in Chess" nebst anderen Schwindel-Büchern und die deutsche Ausgabe von "Game Changer".

 

Es geschieht nicht oft, wenn ein Buch erscheint, dass ich es unbedingt, und zwar jetzt und gleich und ohne Verzögerung, sofort haben muss. Diese Partiensammlung Gellers gehört dazu.

Es mag einigen Lesern nicht bekannt sein, wer Efim Geller eigentlich war. Dieser Wikipedia-Artikel bringt es gut auf den Punkt. Nur so viel sei an dieser Stelle erwähnt: Gegen die Weltmeister Botwinnik, Fischer, Petrosjan und Smyslow hatte er einen positiven Score, 1979 gewann er vor Kasparow die UdSSR-Meisterschaft. Botwinnik sagte einst über ihn: "Vor Geller hatten wir die Königsindische Verteidigung nicht angemessen verstanden." Die ausgefuchsten Pläne für Weiß im Sizilianer von Karpow hatten bei Geller ihren Ursprung.

Der Quality Chess Verlag tut sehr gut daran, Gellers Partien mit dessen eigenen Kommentaren (aus dem Russischen ins Englische übersetzt) einem internationalen Publikum zur Verfügung zu stellen. Die Vermächtnis-Reihe "Chess Classics" war mit Ausnahme des schönen Petrosjan-Buchs "Python Strategy" bislang nichts für mich. "Questions of Modern Chess Theory" von Isaak Lipnitzky ließ mich eher kalt, beim Versuch, Peter Romanowskis "Soviet Middlegame Technique" zu lesen, verlor ich schnell den Glauben an die Richtigkeit vieler Behauptungen.

Bislang kannte ich von Geller nur "The Application of Chess Theory". Mit dem vorliegenden Buch tituliert der Verlag den ukrainischen Großmeister Efim Geller als "The Nemesis" ("Der Widersacher") – wohl wegen des persönlichen Erfolges in den Partien gegen die vielen Weltmeister. Wie kaum ein anderer ergründete Geller das Wesen einer Position. Ein Wahrheitssucher, und darin für mich noch beeindruckender als Steinitz.

Über eine Sache müssen wir an dieser Stelle aber auch reden: Die Anmerkungen, denn diese stören enorm. Natürlich haben wir durch die Engines einen ganz anderen Radar zur Verfügung als damals, als diese Partiekommentare erschienen waren. Allerdings haben für mich diese Anmerkungen den gleichen aufmerksamkeitsraubenden Charakter wie Werbeeinblendungen. Erstens wird dem Leser ständig vor Augen geführt, wie oft sich Geller irrte, was nichts Besonderes ist, weil alles, was früher im Schach publiziert wurde, einer heutigen Genauigkeitsüberprüfung nicht stand hält, aber darüber hinaus haben die Verleger aus meiner Sicht keine Lösung gefunden, die Balance aus notwendiger Anmerkung und überlauter Präsenz zu finden. Es wirkt mitunter sogar ein wenig altklug.

Bei Kasparow in dessen "My Great Predecessors" wurde die Balance besser gewahrt, auch weil Kasparow selbst eine Autorität ist. Wenn aber in den Anmerkungen zu Geller - Fischer (Curaçao 1962) steht, laut Mednis sei die korrekte Variante 14…Tac8 15.Tc1 Dd8 16.Dc2 h6, mit der Absicht, die schwarzfeldrigen Läufer mit …Lg5 zu tauschen, so ist das doch nicht so bedeutend, ob Mednis das so einschätzt hat oder nicht. Das "according to" ist hier doch überflüssig, Urheberschaft drückt hier keine Autorität aus, höchstens rechtschaffene Höflichkeit gegenüber jenem, der es (vielleicht) zum ersten Mal publizierte. Rudolf Teschner hätte das besser gemacht. In diesem Fall vielleicht: "Mednis schlug später vor, mit (…) die Läufer auf g5 zu tauschen." Wenn hingegen eine Analyse von Kasparow und Dworetzki Fischers 34…Lf5 kritisiert und belegt, mit 34…Dc2 sei die Partie wohl noch zu halten gewesen, hat das ein ganz anderes Gewicht.

Mich stören die vielen Anmerkungen und sie zerren an meiner Aufmerksamkeitsspanne. Ich will Gellers Kommentare lesen, und wenn er sich irrte, will ich gelegentlich Züge in Klammern und dann eher Fußnoten lesen. Dieses Format gefällt mir nicht.

Aber genug von dieser Kritik. Das Buch sollte als Hardcover gekauft werden. Dreißig Euro ist es komplett wert. Wer das Buch liest, versteht anschließend mehr vom Schach. Ist einfach so.

Efim Geller: The Nemesis. Quality Chess, 480 S., Glasgow 2019.

 

Weitere Titel im Schnelldurchlauf:

Gibt es einen Autor, der noch mehr publiziert als Cyrus Lakdawala? Alles Mögliche über Eröffnungen und Stars, doch jetzt mal was anderes: "Winning Ugly in Chess" (New in Chess, 304 S., Alkmaar 2019)

Vorweg: Das eigentliche (Tennis)-Buch von Brad Gilbert ist ein Ding für sich. Tennis-Profi und Trainer Brad Gilbert hatte mit "Winning Ugly" ein Buch publiziert, das wirkliche Bedeutung hatte. Das Buch "Winning Ugly in Chess" hat eher wenig Relevanz, was die Themensetzung betrifft. Es ist ein eher verschwatztes Buch zum Schmökern, voller Anekdoten, Anregungen und eher Notizenhaftem. Der Text bleibt nicht konsequent bei der Sache, hat mit der Technik des schmutzigen Gewinnens und der mentalen Haltung dazu nicht so viel zu tun. Ich hätte so etwas wohl lieber von Lev Aronjan gelesen.

Neugierig macht mich das neue Buch von Andy Soltis über das Schwindeln im Schach ("How To Swindle in Chess", Batsford, 240 S., London 2020). Im Alter ist Soltis ja immer besser geworden, so mein Eindruck nach "My Horse for Your Kingdom" und vor allem nach der Vierer-Biographie "Tal, Petrosian, Spassky and Korchnoi" (siehe auch hier auf der BSV-Seite: "Vier Kombattanten", Oktober 2019).

Wirklich interessant ist aber das zweite Buch von David Smerdon. "The Complete Chess Swindler" des australischen Großmeisters gefällt mir sehr gut (New in Chess, 368 S., Alkmaar 2020). Klare Kaufempfehlung: Substanziell, kenntnisreich, gut geschrieben, viel drin, kluger Autor, lesen.

Vor einem Jahr schwappte der Alpha-Zero-Hype über uns hinweg. Googles Projekt "Deep Mind" zu neuronalen Netzwerken gewährte dem Autorenduo Matthew Sadler/ Natasha Regan Zutritt, hielt aber ansonsten viele Informationen vor der Öffentlichkeit zurück. Ich hatte mich in der Zeitschrift „Schach“ Ende 2016 über Deep Mind geäußert. Zwischenzeitlich war’s dann etwas stiller, doch dann kamen die Damenindisch-Knaller gegen Stockfisch. Das Buch wurde von vielen gelesen, aber mich hat das eher wenig berührt. Die bunten Hunde unter den Partien waren ohnehin schon publiziert, und auch wenn Sadler schon immer zu meinen Lieblingsautoren gezählt hat, so habe ich inzwischen den Eindruck, dass ihn dieses Projekt nachhaltig beeinflusst hat. Er ist enthusiastisch und beseelt, ja, stimmt schon, aber auf eine eigentümliche Weise wirkt er auch seltsam eingenommen von dieser Faszination. Oder es ist sein Business geworden, so wie jemand aus der Marktingabteilung der Telekom. Nicht, dass er alles in den Himmel lobt, aber mir fehlt da etwas Distanz. Außerdem hätte ich gern etwas mehr über Deep Mind und neuronale Netzwerke erfahren. Aber die gute Nachricht: "Game Changer" gibt’s jetzt auch auf Deutsch: "Zeitenwende im Schach" (New in Chess, 416 S., Alkmaar 2019).

Dann noch etwas: In der kleinen, günstigen und praktischen Serie "C.H. Beck Wissen" hat Christian Mann die Fibel "Schach" veröffentlicht. Für wen ist dieses Buch? Ich stelle mir vor, wenn meine Schwiegereltern das Bedürfnis hätten, etwas übers Schach zu erfahren, so würde ich ihnen das Buch schenken. Es soll jetzt nicht hochtrabend klingen, aber das meiste wird uns geläufig sein. In dem Buch steht aber viel drin, es ist recht universell und hat einen wohlwollend narrativen Ton, so dass man es locker durchblättern kann, und für einen Zehner ist es auch nicht allzu teuer (C.H. Beck, 128 S., München 2019).

Die Titel wurden uns zur Verfügung gestellt vom Schachversand Niggemann

Bearbeiter: Fernando Offermann | | Archiv: Rezensionen | ID: 8614

Kategorie: Rezensionen

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